Authentisch Menschen fotografieren – meine Leidenschaft als Fotografin
Es ist meine persönliche Faszination für Menschen, die mich antreibt, authentisch Menschen zu fotografieren. Der Mensch, vollumfänglich, in seinem Wesen und seiner Echtheit, mit all seinen Makeln und seinem Leuchten, seiner ganzen Geschichte und seinem prallgefüllten «Rucksäckli», welches er mit sich trägt. Wie schaffe ich es, diesen Menschen und seine Echtheit so gut wie möglich in einem Bild festzuhalten?
Unsere Gesellschaft und unser Bildungssystem sind nicht auf diese Art von Abbild ausgerichtet und darum durfte ich in den letzten Jahren sehr viele Aspekte für mich ausprobieren und dazulernen. Ich möchte gerne meine Erfahrungen, authentisch Menschen zu fotografieren, mit dir teilen und vielleicht kannst du etwas davon für deinen eigenen Weg mitnehmen.
Alle nachfolgenden Punkte sind meine persönliche Wahrnehmung und haben sich für meine Arbeit als Fotografin bewährt. Ich verurteile andere fotografische Vorgehensweisen in keinster Form.
Regina Jäger
Inhaltsverzeichnis
Die Vorbereitung
Du und deine Kamera – das ist eure Geschichte und euer Konflikt, welchen ihr gemeinsam zu lösen habt. Aber macht das unter euch aus. Im dunklen, stillen Kämmerlein. Denn um spontan zu sein, hilft es, gewisse technische Grundlagen und Handgriffe zu beherrschen. Dann kannst du dich nämlich am Shooting vollumfänglich auf die Menschen einlassen und sie authentisch fotografieren, anstatt dich mit technischen Problemen herumschlagen zu müssen. Wenn du nicht spontan auf Lichtverhältnisse und die Umgebung reagieren kannst, was völlig in Ordnung und normal ist, dann bereite dich vor, indem du den Ort auskundschaftest und dir ein Bild über die Lichtverhältnisse machst. Überlege dir, welches Material (Objektive, Blitz, Reflektor etc.) sinnvoll und nützlich für deine Umsetzung ist.
Verantwortung übernehmen
Das Thema Verantwortung ist eine Gratwanderung. Wenn man merkt, dass das Gegenüber Sicherheit braucht, sollte man diese Sicherheit auch vermitteln. Dann gibt es Menschen welche, gegenteilig zu den Vorhergenannten, die Situation gerne in die Hand nehmen. Und auch dieser Platz sollte bis zu einem gewissen Punkt gegeben werden. Die Hauptverantwortung ist und bleibt aber bei mir als Fotograf. Darum ist hier sehr viel Feingefühl gefragt, diese Rahmenbedingungen zu schaffen und authentisch Menschen zu fotografieren, ohne dabei irgendeine Partei zu übergehen.
Auch ist es meiner Meinung nach wichtig, im Nachhinein Verantwortung zu übernehmen. Sich einzugestehen, wenn man etwas nicht gesehen hat, dankend annehmen, wenn dich Jemand darauf aufmerksam macht und dann nicht behaupten, der offene, gut durchlüftete Hosenschlitz auf dem Bewerbungsbild sei Absicht gewesen.
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Animation
Du bist nicht als Animator in einem 3 Sterne All-inclusive-Hotel an der Costa Brava gebucht worden. Dennoch kann es vorkommen, dass du in gewissen Situationen deinem Gegenüber Anweisungen geben musst. Meistens reicht es aber völlig aus, natürliche Bewegungen anzuweisen. Mit natürlichen Bewegungen und Handlungen kannst du am besten authentisch Menschen fotografieren.
- Gehen oder Springen
- Schal richten
- Blümchen pflücken
- Umarmen
- In eine bestimmte Richtung blicken
- Wohin mit den Händen (Arme verschränken, in Hosentasche, etwas festhalten)
Meiner Erfahrung nach funktioniert die Anweisung zu lächeln meistens nicht und ein daraus resultierendes verzerrtes Gesicht ist nicht das, was ich möchte. Bei unsicheren Menschen hilft, das Gespräch aufrecht zu erhalten und sie damit ein bisschen vom Wesentlichen abzulenken. Aber auch hier gibt es kein „Allerweltsrezept“, denn jeder Mensch ist individuell und die grosse Kunst im Fotografieren besteht darin, immer wieder von neuem herauszufinden, wie du einen Menschen ein bisschen aus seinen Reserven locken kannst.
Mit Achtsamkeit im Hintergrund bleiben
Wenn Shootings nicht eins zu eins stattfinden ist mein Credo: Sich so unsichtbar wie möglich machen. Und das geht, indem du deine jeweilige Umgebung registrierst und mit allen Sinnen wahrnimmst. Wenn ich weiss, dass ich im Blickfeld vieler Leute bin, dann bewege ich mich erst dann, wenn es laut ist oder viel Betriebsamkeit herrscht. An einem klassischen Konzert zum Beispiel, bewege ich mich im Moment des Applauses oder des Szenenwechsels, damit ich so wenig Aufmerksamkeit wie nur möglich errege. Oder bei einem Rockkonzert falle ich im tobenden Publikum viel weniger auf. Vorausdenken ist hier die Devise. Ich weiss, «das perfekte Bild» zu fotografieren ist verführerisch, aber mach dir bewusst, wer sich alles von dir gestört fühlen könnte und ob du allenfalls vom eigentlichen Geschehen ablenkst und somit den Bildern das gewollte Authentische raubst.
Denk daran: Man pupst in der Sonntagsmesse bestenfalls auch erst dann, wenn der Orgelspieler feierlich eine von Bachs Toccaten anschlägt. ?
Regina Jäger
Komplimente steigern den Wohlfühlfaktor
Die Parolen der Fotografen von «Germany’s Next Topmodel» müssen nicht zwingend Teil deines Charakterzugs sein. Vereinzelte, gezielte und vor allem ernst gemeinte Komplimente tun ihre Wirkung viel effektiver. Wenn ich dir jetzt einige Beispiele präsentiere, wäre es ja nicht mehr authentisch deinerseits. Finde die Dinge beim Gegenüber welche schön und erwähnenswert sind. Es hilft oft auch, zwischendurch eins bis zwei Bilder zu zeigen, damit alle Gemüter beruhigt sind.
Ego
Ich denke in der ganzen fotografischen Situation, authentisch Menschen zu fotografieren, geht es nicht darum, den Fokus auf dich und dein Können zu setzen. Auch wenn es sich überaus gut anfühlt, gebauchpinselt zu werden. Es geht darum eine Dienstleistung professionell umzusetzen und das funktioniert meistens am besten, wenn man sein Ego zurücknimmt. Wird das Ego gefüttert, geht meiner Meinung nach der Mensch, die Umgebung und die Verantwortung vergessen und das wirkt sich wiederum negativ auf ein authentisches Portrait aus.
Sei immer du selbst
Ich erachte es als grundlegend, sich immer wieder die Frage zu stellen, warum man eigentlich fotografiert. Mache ich das, was ich tue gerne? Oder ist es einfach eine Abwicklung von Abläufen, eine Routine, bei welcher mir gleichzeitig meine rechte Gesichtshälfte einschläft. Wenn du deiner Leidenschaft nachgehst, deiner Berufung, unabhängig von Erfolg und extrinsischen Faktoren, dann wird sie automatisch authentisch und bekommt eine eigene, unverwechselbare und wunderbare persönliche Note.
Raum schaffen für Imperfektion
Ein Bild muss technisch nicht immer perfekt sein, wenn es im Gegenzug einen emotionalen Ausdruck aufweist. In meiner Ausbildung habe ich Regeln gelernt, welche ein korrektes Bild ausmachen. Ich habe gelernt, Bilder und Menschen zu retuschieren. Alles, was wir bildtechnisch in der Werbung wahrnehmen, hat diese Grundlage. Ich persönlich bin davon immer mehr weggekommen und bin der Meinung, dass Schönheit als gesellschaftliche Definition hinterfragt werden soll. Jeder Fotograf sollte sich selbst fragen, ob er das gesellschaftliche Ideal weiter mitformen will oder lieber etwas Neues – etwas Authentisches schaffen möchte.
Wenn wir die Unvollkommenheit akzeptieren und das Leben mit einem Lächeln auf dem Gesicht willkommen heissen, dann werden wir nachvollziehen können, wie es sich anfühlt authentisch Menschen zu fotografieren und werden die daraus gewonnene Freiheit in vollen Zügen geniessen können.
3 Gedanken und Fragen