Freihandgrenze – Nie mehr unscharfe Bilder mit der Reziprokenregel!
Was ist die Freihandgrenze und wie funktioniert die Reziprokenregel in der Fotografie? Eine der grössten Herausforderungen für viele Fotografen ist das Machen scharfer Fotos beim Fotografieren „von Hand“. Viele kämpfen mit verschwommenen Bildern, ohne die Ursache des Problems zu verstehen, die normalerweise das Wackeln der Kamera ist. Mit folgenden Regeln kannst du unscharfe Bilder vermeiden.
Die Verwacklung kann viele Ursachen haben – von zitternden Händen bis hin zu spiegel- und verschlussbedingten Vibrationen. Das kann eine echte Herausforderung darstellen und ist beim Fotografieren manchmal unmöglich zu verhindern. In diesem Beitrag spreche ich über die häufigste Ursache für Verwacklungen: eine zu lange Verschlusszeit beim Halten der Kamera. Ich werde die Freihandgrenze vorstellen und erklären, wie man sie anhand der Reziprokenregel anwendet. Tönt erst einmal kompliziert, ist es aber nicht. Nach dem Lesen dieses Artikels solltest du deutlich höhere Chancen auf scharfe Fotos haben, auch wenn du einmal kein Stativ dabei hast!
Inhaltsverzeichnis
Was ist die Freihandgrenze?
Wir Menschen können nie ganz stillhalten. Besonders, wenn wir ein Objekt wie z.B. eine Kamera in der Hand halten. Daher können die von unserem Körper verursachten Bewegungen zu verwackelten und unscharfen Bildern führen. Das Grundprinzip der Freihandgrenze ist, dass die Verschlusszeit deiner Kamera mindestens dem Wert der effektiven Brennweite des Objektivs entsprechen sollte. Wenn du dich jetzt fragst, was das bedeutet, keine Sorge – anhand eines Beispiels ist es einfach zu verstehen. Klären wir doch gleich zu Beginn, was das Wort Reziproke, oder eben die Reziprokenregel bringt.
Reziprokenregel in der Fotografie
Angenommen, du fotografierst mit einem Zoom-Objektiv wie dem Nikkor 80-400 mm f/4,5-5,6G VR auf einer Vollformatkamera wie der Nikon D750. Die Freihandgrenze besagt, dass wenn du mit einer Brennweite von 80 mm aufnimmst, deine Verschlusszeit auf mindestens 1/80 Sekunden eingestellt sein sollte. Wenn du auf 400 mm heranzoomst, sollte die Verschlusszeit mindestens 1/400 Sekunden betragen. Die Reziprokenregel besagt also, dass die maximale Belichtungszeit immer der Kehrwert der Brennweite ist. Logisch, denn das Wort Reziprok heisst ja auch „Kehrwert“.
Zurück zu unserem Beispiel. So kurze Verschlusszeiten wie 1/400 Sekunden müssten Unschärfen durch Verwacklung verhindern. Aber warum denn jetzt? Zwischen Brennweite und Verwacklung gibt es einen direkten Zusammenhang; je länger die Brennweite, desto mehr Potenzial für Verwacklungen besteht. Wenn du ein langes Telezoom-Objektiv wie das oben genannte 80-400 mm besitzt, hast du wahrscheinlich schon bemerkt, wie viel wackeliger und sprunghafter dein Sucher ist, wenn du auf die längste Brennweite herangezoomt hast. Das liegt daran, dass die Kamerabewegung bei längeren Brennweiten verstärkt wird.
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Verwacklung ist nicht gleich Bewegungsunschärfe!
Zwischen Unschärfe durch Verwacklung und Bewegungsunschärfe gibt es einen wesentlichen Unterschied. Bewegungsunschärfe entsteht dadurch, dass das Motiv sich schneller als der Verschluss bewegt. Hier ist normalerweise nur das Motiv verschwommen, während der Rest des Bildes scharf ist. Beim Verwackeln hingegen wird das ganze Bild unscharf. Die Freihandgrenze ist nur relevant, wenn du deine Kamera in der Hand hältst – mit einem Stativ brauchst du keine schnelle Verschlusszeit.
Die effektive Brennweite ermitteln
Warum sage ich „effektive“ Brennweite? Vorhin habe ich dir ein Beispiel einer Vollformatkamera gegeben. Nun ist es so, dass die meisten Einsteiger-DSLRs einen kleineren Sensor (kleiner als Vollformat / 35 mm) haben. Wenn du jetzt also dasselbe 80-400 mm-Objektiv verwendest, musst du den sogenannten Formatfaktor (auch Crop Factor) mit einberechnen, damit du auf die effektive Brennweite kommst. Du nimmst die Brennweite und multiplizierst sie mit dem Crop Factor, welcher in diesem Beispiel 1,5 ist. Der Faktor variiert je nach Kamera. Du willst mit einer Brennweite von 400 mm fotografieren, also rechnest du 400 x 1,5 und erhältst so die effektive Brennweite von 600 mm. Wenn du jetzt das vorhin Gelernte anwendest, solltest du zu dem Schluss kommen, dass die minimale Verschlusszeit bei 1/600 Sekunde liegt.
Anmerkungen und Ausnahmen
Die Freihandgrenze ist keine echte Regel – eher eine Anleitung zum Finden der minimalen Verschlusszeit, um Unschärfe zu verhindern. Wie die Verschlusszeit die Verwacklung beeinflusst, hängt in Wahrheit aber von einer Reihe verschiedener Faktoren ab:
- Deine Handhaltetechnik: Wenn du eine schlechte Handtechnik hast, funktioniert die Freihandgrenze nicht und du musst möglicherweise kürzere Verschlusszeiten verwenden. Ausrüstung und Objektive variieren in Grösse, Gewicht und Volumen, sodass du je nachdem, was du ablichtest, spezielle Kamera Handhaltetechniken anwenden musst.
- Kameraauflösung: Ob es uns gefällt oder nicht, Digitalkameras haben immer höhere Auflösungen. Wie wir im Falle von hochauflösenden Kameras wie der Nikon D810 gesehen haben, kann die Tatsache, dass mehr Pixel in den gleichen physikalischen Raum eingeklemmt sind, einen drastischen Einfluss auf die Bildschärfe bei 100% Zoom haben. Kameras mit höherer Auflösung sind anfälliger auf Verwacklungen als ihre Kollegen mit niedrigerer Auflösung. Wenn du es also mit einer hochauflösenden Kamera zu tun hast, musst du möglicherweise die Verschlusszeit höher einstellen, als es die Freihandgrenze vorgibt.
- Objektivqualität- / schärfe: Du hast vielleicht eine hochauflösende Kamera, aber wenn sie nicht von einem leistungsstarken Objektiv mit hoher Schärfe ergänzt wird, wirst du keine scharfen Bilder liefern können. Dann ist es egal, wie schnell die Verschlusszeit eingestellt ist.
- Motivgrösse und -entfernung: Das Fotografieren eines winzigen Vogels aus grosser Entfernung und der Wunsch, jedes Federdetail sehen zu können, erfordert in der Regel eine kürzere Verschlusszeit als von der Freihandgrenze empfohlen. Das gilt insbesondere, wenn das Motiv bei 100% Zoom (Pixelniveau) scharf sein muss.
- Bildstabilisierung: Das ist ein wichtiger Faktor, der separat erläutert werden sollte – siehe unten.
Bildstabilisierung – hier gilt die Freihandgrenze nicht
Die Freihandgrenze wird überflüssig, wenn dein Objektiv oder deine Kamera mit einer Bildstabilisierung (auch bekannt als „Vibrationsreduzierung“ oder „Schwingungskompensation“) ausgestattet ist. Diese reduziert Verwacklungen der Kamera sehr effektiv, indem sie interne Komponenten des Objektivs oder den Sensor bewegt (entgegen der Kamerabewegung). Da die Anwendung und die Wirksamkeit der Bildstabilisierung von einer Reihe von Faktoren abhängen, variiert ihre Wirkung je nach Kamera oder Objektiv sehr stark. Beispielsweise verwenden Nikon und Canon beide eine Objektivstabilisierung und beanspruchen in der Regel das 2- bis 4-fache des Kompensationspotenzials bei Objektiven. Olympus hingegen beansprucht bei seiner spiegellosen OM-D E-M1-Kamera mit 5-Achsen-Bildstabilisierungssystem im Gehäuse das bis zu 5-fache der Kompensation. Das kann die Verschlusszeit ohne Verwackelung stark verlängern – auf einen Wert weit über dem, was die Freihandgrenze empfiehlt.
Das oben genannte Nikkor 80-400 mm besitzt eine Bildstabilisierung und arbeitet mit bis zu vier Kompensationsstufen. Das heißt, du könntest die empfohlene Verschlusszeit theoretisch um bis zu 16 mal reduzieren! Wenn du also bei 400 mm fotografierst, deine Handhaltetechnik perfekt war und die Bildstabilisierung eingeschaltet war, kannst du von 1/400-Sekunden (bei Vollformat) auf 1/25-Sekunden gehen und trotzdem ein scharfes Bild aufnehmen. Das setzt aber voraus, dass sich dein Motiv nicht bewegt. In solchen Fällen gilt die Freihandgrenze einfach nicht.
Anwendung der Freihandgrenze bei Auto-ISO
Viele moderne Digitalkameras verfügen über eine wirklich praktische Funktion namens „Auto ISO„, mit der man die Kamera je nach Lichtverhältnissen ISO-abhängig steuern kann. Einige Auto ISO-Anwendungen sind eher simpel, so dass der Endnutzer nur minimale und maximale ISO-Werte eingeben kann und wenig bis gar keine Kontrolle über die minimale Verschlusszeit hat. Andere verfügen über erweiterte Funktionen, die es dir nicht nur ermöglichen, ein ISO-Maximum anzugeben, sondern auch die minimale Verschlusszeit vor der Änderung der ISO-Einstellung. Nikon und Canon zum Beispiel haben eine der besten Auto ISO-Funktionen in ihren modernen DSLRs. Zudem kann die minimale Verschlusszeit auf „Auto“ eingestellt werden, wodurch die Verschlusszeit automatisch nach der Freihandgrenze eingestellt wird.
Du kannst das sogar noch weiter anpassen, indem du die minimale Verschlusszeit in Bezug auf die Freihandgrenze verringerst oder erhöhst. Bei meiner Nikon D750 kann ich beispielsweise die minimale Verschlusszeit auf „Auto“ einstellen und dann den Balken einmal auf „Schneller“ einstellen, was die Verschlusszeit nach der Freihandgrenze verdoppelt. Wenn ich also mit einer Brennweite von beispielsweise 100 mm fotografiere, erhöht die Kamera automatisch die ISO-Werte. Jedoch nur dann, wenn meine Verschlusszeit unter 1/200 Sekunde fällt. Und wenn ich ein stabilisiertes Objektiv verwende und möchte, dass meine Kamera eine längere minimale Verschlusszeit hat, kann ich den gleichen Balken in Richtung „langsamer“ bewegen und die minimale Verschlusszeit nach der Freihandgrenze reduzieren.
Die ganze Thematik an sich ist nicht kompliziert und einfach einzuprägen. Das Schwierigste daran ist zu erkennen, wo das Problem liegt. Wenn deine Bilder unscharf sind und du nicht weisst wieso – check mal die Freihandgrenze!
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